Rede Hajo Eickhoff

 

 

Vortrag zur Ausstellungseröffnung
Michael Pickl
im Kunstschloss Theuern
am 13. Juli 2014 von Hajo Eickhoff

 

Darf Kunst schön sein?
Schönheit und Wohlbefinden

Herzlich willkommen meine Damen und Herren zur Ausstellungseröffnung von Michael Pickl im Kunstschloss Theuern. Kunst und Schönheit lassen sich nicht präzise definieren, weshalb der Vortrag eher einem Schwebezustand als einem festen Standpunkt gleichen wird. Dennoch lässt sich über Schönheit und Kunst sprechen. Albrecht Dürer hat gesagt, dass er nicht wisse, was Schönheit sei, aber wenn etwas schön sei, wisse er das.

Herzlichen Dank für die Einladung an den Künstler Michael Pickl und den Museumsleiter Michael Ritz. Ich freue mich sehr, hier zu sein. Eine oft gehörte Wendung, doch ich bin begeistert von den Arbeiten des Künstlers – von ihrer Schönheit und Anmut – und freue mich, dass ich sie hier einmal aus der Nähe wahrnehmen kann.

In der modernen Kunstgeschichte und Kunstbetrachtung spielt das Schöne eine untergeordnete Rolle. Ausgerechnet in den Schönen Künsten, den Belles artes, erfährt das Schöne wenig Würdigung. Der Wiener Gestalter Adolf Loos hat den Prozess der Entwürdigung mit seinem Statement „Das Ornament ist ein Verbrechen“ eingeleitet, das der Philosoph Theodor W. Adorno in seiner Forderung „Kunst muss wehtun“ gefestigt hat. Sicher darf Kunst weh tun, doch sie darf auch schön sein. Und sie muss es.

Die Skulpturen von Michael Pickl sind Schönheiten. Ihr Grundmaterial ist Holz. Eine Pflanze. Als erste Lebewesen verlassen Pflanzen das Wasser, nachdem sich eine geeignete Atmosphäre und eine schützende Ozonschicht gebildet haben. Aufgrund des fehlenden Auftriebs im Wasser benötigen sie auf dem Land ein festes Gerüst, ein Skelett, das bei den großen Pflanzen, den Bäumen, zu Holz verarbeitet werden kann.

Baum und Holz begleiten den Menschen durch das Leben in vielfältiger Weise. Der Mensch bedarf des Baumes aus existentiellen Gründen, denn er bietet Schutz und gibt Schatten, begrünt die Erde, spendet Früchte, Honig, Kautschuk und Lakritz und hat einen großen Nutzen für Erde und Klima. Das Material, dass der Mensch aus dem Baum gewinnt – das Holz – ist ein unentbehrliches Gut. Er braucht es für den Hausbau und für Werkzeuge, für Regale und Boote, für Luxuserzeugnisse, Musikinstrumente und Skulpturen.

Holz kann den Menschen durch seine äußere Erscheinung ebenso wie durch seine innere Beschaffenheit beeindrucken. Ich habe ein Didgeridoo – ein Holzblasinstrument – mitgebracht, das wie eine Holzskulptur Schönheit erzeugen kann. Allerdings spricht es das Ohr an. Durch bizarre, ungewöhnliche und schöne Töne, während die Holzskulpturen von Michael Pickl das Auge durch wunderbare und schöne Formen ansprechen. Zur Demonstration spiele ich ihnen nun einige Töne auf dem Didgeridoo vor.

Wie sie hören, wirkt das Didgeridoo durch seine innere Qualität. Ein ausgehöhltes Holzrohr aus dem Ast eines australischen Eukalyptusbaumes. Bespielt mit einer besonderen Atemtechnik – der Zirkularatmung. Das Instrument hat keine Tasten und keine Löcher, erst die Atemtechnik schafft die Variation der Klänge: während man oben abwechselnd hineinatmet und hineinbläst, strömt aus der unteren Öffnung des Instrumentes ein stetiger, ununterbrochener Klangteppich heraus. Die Skulpturen dagegen wirken oberflächlich, so dass ihre Schönheit ganz in der Wirkung der Oberfläche liegt. Bearbeitet mit Säge und Meißel, Hammer, Farbe und einer Gestaltungsidee.

Ich definiere Schönheit als Attraktion. Als Neigung. Als Anziehung. Als Sehnsucht nach dem Vollkommenen, nach Liebe und Anmut. Schönheit ist ein Grundzug menschlichen Lebens. Niemand wird von sich sagen, er strebe nach dem Hässlichen und Monströsen. Im Gegenteil – der Mensch strebt nach Schönheit und Harmonie. Wir können auch sagen: nach Glück. Weniger pathetisch heißt das, er strebt nach Wohlbefinden.

Schönheit in der Tierwelt

In der Tierwelt sind die schönen Exemplare die Männchen. Dabei hat jede Tierart ihre eigenen Merkmale entwickelt, die die Weibchen für attraktiv halten und anlockt. Wie sich herausstellt handelt es sich gerade um die Merkmale, die der Mensch als Verkörperungen des Schönen auffasst.

Wenn wir – zum Beispiel hier in Theuern – einen Vogel singen hören, dann ist es also immer ein Männchen. Es gibt nur wenige Ausnahmen wie Rotkelchen und Lerchen. Und wenn wir schöne Exemplare sehen, sind es ebenfalls Männchen. Die Schönheit des Gefieders, der Gestalt und des Gesangs soll das Weibchen anlocken. Ein Paradies für schöne und geradezu erstaunliche Vögel ist Neu-Guinea. Hier leben die Paradiesvögel. Reich an Formen, Farben und Gesten. Die Männer der Papua jagen diese Tiere. Sie wollen den Vögeln die bunten und glänzenden Federn abnehmen. Sie schmücken sich damit, um für eine Frau zu werben. Indem sie aber das tun, machen die Papua-Männer genau das, was die Paradiesvogel-Männchen machen: sich für die Weibchen schön und attraktiv zu machen.

Dasselbe Prinzip ist bei anderen Tierarten wirksam. Bei der Wahl um den Rudelführer achten Rehe auf besondere Merkmale der Hirsche: auf eine tiefe und laute Stimme beim Röhren, die auf eine große Masse und damit auf Stärke und Potenz hinweist, auf Ausdauer im Kampf und ein symmetrisches Geweih. Das Geweih muss auf beiden Seiten über dieselbe Anzahl von Geweihenden verfügen. Ein Hirsch mit einem unsymmetrischen Geweih – links etwa fünf und rechts sechs Enden – wird kein Rudelführer werden. Er wäre im Kampf benachteiligt. Die Weibchen erkennen jedes Handikap. Der Hirsch wird nach seinen äußeren Merkmalen wie Symmetrie, Größe, Stimmlage und Proportion wahrgenommen und beurteilt.

Ein hinkender Löwe und ein Hirsch mit unsymmetrischen Geweih werden nie ein Rudel anführen, weil Weibchen sie nicht erwählen, wie ein schlecht singendes Vogelmännchen von keinem Weibchen erhört wird.

In der Natur repräsentiert das Männchen das, was Menschen unter Schönheit verstehen. Indem die Weibchen die Männchen wählen, züchten sie die Männchen, die nun in einer harten Konkurrenz stehen und deshalb immer schönere Farben und attraktivere Balzformen entwickeln müssen. Die Männchen sind dazu verdammt, sich zu schmücken. Das erkannte schon Darwin, der aus dem Grunde neben der natürlichen Auslese eine sexuelle Auslese annahm: die Wahl der Männchen durch die Weibchen. Die Wahl erfolgt nach unterschiedlichen Kriterien: nach äußerlichen Maßen wie Symmetrie, Größe und Proportion, nach äußerlichen Merkmalen der Hülle wie Haar, Haut und Gefieder sowie nach der Art des Balzens. Worin aber liegt der Sinn, Männchen nach den genannten Merkmalen auszuwählen? Es ist die äußere Hülle, die Auskunft über Qualitäten gibt.

Der Zustand von Federn, Horn und Haar – die aus Eiweißverbindungen bestehen –, erlaubt Aussagen über die Qualitäten der Vögel. Lebewesen benötigen Eiweiß, da sie sonst weder wachsen noch verbrauchte Teile ersetzen können. Eine gute Ausstattung mit Eiweiß zeigt sich in der Dichte, dem Farbenreichtum und Glanz der äußeren Hülle und offenbart, dass das Lebewesen über einen ausreichenden Vorrat an Eiweiß verfügt, der ein Verweis auf Gesundheit und Kraft ist.

Die Wahl des Vogel-Weibchens, das in der Lage ist, aus den äußeren Zeichen auf den inneren Zustand der Vogel-Männchen zu schließen, ist eine Wahl für ein gesundes Männchen. Durch die Oberflächliche hindurch erkennt das Vogelweibchen etwas Anderes. Ein Inneres, Wesentliches: Gesundheit, Verteidigungsqualität, Potenz und Fortpflanzungsfähigkeit. Das bedeutet, dass das Weibchen den Partner sucht, der ihre Gene am besten weitertragen und sichern kann.

So ist das, was Menschen als Schönheit bezeichnen, in der Natur eine biologische Funktion. Ausdruck für etwas, das mehr ist als bloße Ästhetik: nämlich Gesundheit, Fitness und Durchsetzungsvermögen – also eine hohe genetische Qualität.

Leben ist Ordnung. Im Leben hat das Weltall seine größtmögliche Ordnung geschaffen – komplex und kompliziert. Würden wir eine Hand voll Sand in den Wind werfen, würde der Sand im Wind verwehen. Das gelingt nicht mit Lebewesen. Ihre Elemente sind verbunden, geordnet und zu einer Einheit verwoben. Je komplexer ein Lebewesen, desto größer seine Ordnung. Dagegen zerstören Krankheit und Verletzung die naturgegebene Ordnung.

Deshalb ist auch Schönheit Ordnung. Und das ist es, was Weibchen wahrnehmen – ein höchstmögliches Maß an Ordnung, die Lebensordnung. Es ist die schöne Ordnung, die sie attraktiv finden und die sie anzieht.

Schönheit beim Menschen

Mit Bezug auf die Ästhetik funktioniert der Mensch wie das Tier. Auch er schmückt sich. Dazu bietet die Natur ihm Muscheln und Knochen, Zähne, Blätter und Steine. Er beklebt seine Haut mit Blättern, ritzt sie oder bemalt sie mit farbiger Erde. Oder er verfertigt Hals-, Fuß- und Armreifen. Der Mensch braucht Schmuck und Schönheit wegen der Ordnung, die sie haben, die sie aber auch stiften. Ebenso aus Gründen des Werbens und der Erotik, der Moral und der Ökonomie, der Kommunikation und des Wohlbefindens – Schmuckstücke sind die Institutionen, die Ordnung schaffen.

Das Gegenwort zu schön ist nicht hässlich – es leitet sich von Hass ab und hat keinen Bezug zur Ästhetik –, sondern monströs. Monströs bedeutet unordentlich und naturwidrig. Insofern lässt sich der Gegensatz von schön als naturwidrig bestimmen. Als dasjenige, das aus der Ordnung herausfällt. Aus der Ordnung der Natur in dem Sinne, dass es weder heil noch kraftvoll, noch gesund ist, um die Gene eines Weibchens für die weitere Generation zu sichern.

Auch für den Menschen ist Glanz jeder Art attraktiv: Gold und Silber, Seide und Diamanten, Ölfarbe, Perlmutt und Wasser. Auch auf den Menschen wirkt Symmetrie attraktiv. Der Körper des Menschen ist bilateral ausgerichtet: Augen und Ohren, Füße und Hände sowie Nasenflügel sind paarig angelegt. Auch er achtet Proportion, Körpergröße und eine gute (tiefe) Stimme. Andererseits ist der Mensch auch ein Wesen der Kultur – nicht allein der Natur. Deshalb kommen bei ihm geistig-psychische Merkmale und die Fähigkeit zur Kulturproduktion hinzu. Deshalb ist er in der Lage, den natürlichen Sachverhalt umzukehren und sich gegen Ordnung und Schönheit zu entscheiden, oder das Schöne in anderer Weise zu definieren. Er kann sich für das Morbide, Monströse und Hässliche entscheiden, die er aber zuerst als Attraktivität definieren muss, um sie dann als Attraktivität erfahren zu können.

Das Unschöne ist – anders als das Schöne – einfach darzustellen. Ein Kreis als Gesicht, zwei Punkte als Augen und zwei Kreisbögen als heruntergezogene Mundwinkel, die ungleichmäßig sein können. Zwei oder drei dunkle Flächen als Zahnlücken verstärken das Hässliche. Der Mund mag groß oder klein sein und es mögen mehr Zahnlücken sein, doch das Hässliche wird bleiben. Soll dagegen etwas Schönes dargestellt werden, müssen Gesetze befolgt werden, um Ordnung und damit Schönheit zu sichern.

In der Wahrnehmung des Schönen werden nicht nur die Sinne angeregt, sondern wesentlich auch Gefühl und Geist. Glanz hat eine hohe Attraktivität für den Menschen, hinzu kommt neben dem oberflächlichen Glanz der innere Glanz. Eine innere Schönheit, ein inneres Licht, das nach außen dringt – wie beim Vogelmännchen der Eiweisvorrat als Farbe und Glanz.

Das Besondere des Schönen ist, dass es berührt. In jeder Form und Art. Das mögen eine schöne Form, ein interessanter Gegenstand, ein großzügiges Verhalten, ein verwegener Gedanke, ein Geruch, ein aufregender Blick oder ein ungewöhnliches Ereignis sein. Und wie in der Natur liegt auch hier das Schöne immer unter der Oberfläche – als ein Wesen der jeweiligen Sache.

Dass ich von den Skulpturen von Michael Pickl sehr berührt bin, bedeutet, dass mich die Gestalt seiner Skulpturen in meinem Wesen berührt, indem sie etwas tief in mir Liegendes anregen. Sie bewegen etwas in mir – motivieren mich. Interessanterweise können wir aber nur von etwas berührt werden, das selbst ein Wesen ist, woraus sich für Schönheit eine wunderbare Definition ergibt: Schönheit ist eine Resonanz zwischen zwei Wesen. In der Kunst zwischen einem Werk und dem Betrachter oder Zuhörer.

Wenn Sie, meine Damen und Herren, durch die Ausstellung gehen und von einer der Skulpturen berührt und angeregt werden, könnten Sie sich einmal fragen, was es ist, was Sie in Ihrem Innern, ihrem Wesen anspricht und berührt: welche Formen und Farbe, welche Strukturen und Bearbeitungsarten oder welches Zusammenspiel dieser Elemente es sind, die sie persönlich bewegt? Es ist die Fähigkeit des Künstlers Michael Pickl, sie mit seinen Skulpturen dazu anzuregen.

Schönheit motiviert. Der Mensch will sie aufnehmen, in ihrer Nähe sein, sie vielleicht selbst einmal herstellen. Schönheit bewirkt, dass er bewegt wird, etwas zu tun, dass er etwas Wesentliches erkennt – wie die Weibchen in der Tierwelt –, dass er sich wohler fühlt. Schönheit ist ein Vademekum. Ein Mittel zur Förderung des Wohlbefindens.

Schönheit ordnet. Menschen sind Ordnungssucher. Sie suchen Ordnung für sich, für andere und für die Gemeinschaft. Sie wollen Leben und Welt in eine überschaubare und handhabbare Form bringen, da eine solche Ordnung dem Leben Unsicherheit und Bedrohlichkeit nimmt. Darin liegt die Stille Kraft von Schönheit. Das Herstellen von Ordnung ist wesentlich eine geistige Tätigkeit. Auch die Kunstproduktion ist nicht in erster Linie Handwerk, sondern das Handwerk wird begleitet von Ideen und Vorstellungen, für die Künstler eine geeignete Form suchen. Viele Ereignisse, Daten und Fakten muss der Mensch sondieren, sortieren und strukturieren, bis er sich zurechtzufinden und orientieren kann. Indem er Ordnung schafft, schafft er zugleich etwas Schönes.

Schönheit differenziert. Im Laufe seiner Entwicklung musste der Mensch lernen, das Schöne vom Monströsen zu unterscheiden – das Gesunde vom Kranken, das Gute vom Bösen. Unterscheidungen zu treffen sind auch eine Aufgabe der Kunst. Der Künstler bringt hervor, gestaltet, schöpft. Er schöpft Dinge, Formen, Gebäude, Straßen, Gedanken, Werkzeuge, Musikinstrumente, Skulpturen.

Schönheit ist einzigartig. Das Schöne, das Künstler schaffen, ist etwas, das in der Natur noch nicht vorhanden war. Es ist das Einzigartige eines Kunstwerkes, das den Menschen berührt. Wenn der Mensch berührt ist, ist er eins mit sich, mit den Menschen und mit der Welt. Er ist dann verschwistert mit dem Kosmos. Das Kunstwerk ist ein Werk, das den Menschen so beeindruckt, dass er verwandelt wird.

Schönheit geht über den Alltag hinaus. Das Schöne in der Kunst ist das, was über das, was der Mensch mit seinen Sinnen wahrnehmen kann, hinausgeht. Hinaus über das Nützliche und den bloßen Gebrauch. Das Schöne gibt ihm eine Ahnung davon, dass unter der Oberfläche des Wahrgenommenen und Wahrnehmbaren noch etwas anderes, eine andere Welt liegt. Ein Rätsel. Ein Rätsel des Lebens. Das Geheimnis der Welt.

Ordnung ist geistige Arbeit. Ein Design zu schaffen oder ein Kunstwerk ist geistige Arbeit. Das handwerkliche muss natürlich beherrscht werden, doch die praktische Arbeit wird immer geleitet durch eine Idee, eine Vorstellung, für die eine geeignete Form gesucht wird.

Die Schönheit der Skulpturen von Michael Pickl

Ein Hauptmotiv im Werk von Michael Pickl ist die Frau. Seine Frauen sind außerordentlich präsent. Sie stehen aufrecht und sind ausgesprochen schön. Sie haben einen wunderbaren Ausdruck, sind anmutig, aufrichtig und scheinen unerschütterlich. Zart und selbstständig in einer Haltung, als wären sie durch nichts aus der Fassung zu bringen. Die äußere Gestalt und die Haltung der Figuren korrespondieren treffend mit dem Ausdruck des Gesichts, dem komplexesten Ausdruck, den das Weltall hervorgebracht hat. Anmutig und getragen von einer inneren Kraft und der Botschaft an die Betrachter: „Vertraue Deiner inneren Kraft.“

Künstler können eine ebene Fläche als Raum und ein räumliches Objekt als ebene Fläche zur Erscheinung bringen. Michael Pickl gestaltet seine Figuren immer wieder überlang, meißelt in unterschiedlichen Breitegraden und trägt mattfarbene Pigmente auf, wodurch das Volumen der Skulpturen für das Auge geringer erscheint, als es tatsächlich ist. Die scheinbare Reduktion des Volumens oder die erscheinende Flächigkeit erlaubt die Darstellung von Abstraktionen, die es möglich macht, das Wesentliche zu erfassen und wiederzugeben. Das Ziel der Abstraktion ist das Erfinden einer Gestalt für eine Idee. Im Abstrahieren, dem Absehen von Details, liegen die Möglichkeiten, das Wesentliche zu zeigen – eine nackte Ordnung, das Schöne.

Kunst muss also nicht wehtun, sondern darf auch schön sein. Und sie muss es. Dann das Schöne in der Kunst ist der Ausdruck der erfolgreichen Bewältigung einer vorgegebenen Idee. Immer dann, wenn Betrachter berührt sind, wird das Beeindruckende der Schönheit transportiert. Indem sie etwas Wesentliches im Bertachter anregt. Das Verhältnis von Mensch und Kunst liegt in der Frage nach der Berührung.

Die Skulpturen von Michael Pickl bringen etwas Allgemeines zum Ausdruck. Und etwas Politisches, wie es die Griechen in der Antike verstanden: die Beschäftigung mit den öffentlichen Angelegenheiten der Gemeinschaft – der Polis. Mit dem, was die Gemeinschaft aktuell betrifft und mit dem, was die Gemeinschaft in Zukunft für Aufgaben zu bewältigen hat. Die Skulpturen von Michael Pickl sind ein engagiertes politisches Statement. Seit Jahrtausenden hatte der Mann die Möglichkeit, zu zeigen, dass er nicht nur ein guter Erfinder und Techniker ist, sondern auch ein guter Politiker, der die Welt gut für die Menschen einrichtet. Eine schwierige Aufgabe, die ihm – sie befriedigend auszuführen – nicht gelungen ist. Die Menschen und ihre Kulturen sind eng zusammengewachsen. Das birgt Probleme und Gefahren, da die unterschiedlichen Moralvorstellungen immer nur für jeweils eine Kultur gelten. Daher ist die Welt in einem großen Durcheinander. Sie ist nicht friedlich. In der antiken griechischen Demokratie gehörten nicht nur Sklaven, Bauern und Knechte nicht zum Volk, dem Demos, sondern auch die Frauen nicht. Und nun stehen Frauen plötzlich im Zentrum eines künstlerischen Werkes. Zwar haben sich in den vergangenen fünfzig Jahren die Frauen viele Rechte erkämpft, doch im praktischen Leben ist vieles beim Alten geblieben. Und nun steht sie hier – im Werk von Michael Pickl – im Zentrum der Betrachtung. Und sie steht vor uns mit einer anmutigen und selbstbewussten Unerschütterlichkeit, Einfachheit und Friedlichkeit.

Eine Friedlichkeit, die näher bezeichnet werden kann: es ist eine subversive Friedlichkeit. Das offenbart die Schönheit der Skulpturen: schöne, anmutige und selbstbewusste Frauen. Es ist das, wonach sich die Menschen sehnen: Die Fähigkeit zu einer stillen und doch mächtigen Herausforderung. Ohne Pathos. Nicht fordernd, aber eindringlich und herausfordernd.

Die Schönheit der Skulpturen hat unterschiedliche Ursachen. Sie liegt in der Form, im Inhalt, in der Idee und in der Erfindung. Die Form betrifft die Ästhetik, der Inhalt die Bedeutung, die Idee die Kunstauffassung und die Erfindung den Künstler der Skulpturen. Der Künstler ist derjenige, der die Schönheit erdenkt, herstellen möchte und der über das Talent und Vermögen verfügt, das Erdachte und Gespürte angemessen zu realisieren. Das ist der Bildhauer Michael Pickl, dem es mit großer Sicherheit gelingt, das Wesen von Haltung und Ausdruck in einer schönen Gestalt zu sammeln und die Betrachter zu verzaubern, zu verwandeln und zur Auseinandersetzung anzuregen.

Das Politische im antiken Sinne fragt danach, was der Einzelne tun kann, um die Gemeinschaft für jeden Menschen gerecht einzurichten und die Welt ein wenig besser zu machen: Das Beste, was er der Welt antun kann, ist, positiv auf sie zuzugehen: auf die Natur, auf den Menschen und auf die Werte der eigenen Kultur und die Werte aller anderen Kulturen. Die Welt wäre friedlicher, wenn die Menschen großzügiger, toleranter, gelassener und respektvoller miteinander umgingen. Denn wer auf jemanden respektvoll und positiv zugegangen ist, wird die Erfahrung gemacht haben, dass auch er meist respektvoll behandelt wurde. Das drückt der einfache Satz des chinesischen Philosophen Meng Tzu aus: „Es ist möglich, als großer Mensch zu handeln.“ Bildhaft und in schönen Formen kommt dieser Satz in den Skulpturen von Micheal Pickl zum Ausdruck.

Hajo Eickhoff

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