Atem der Schönheit

 

Atem der Schönheit

Die Frauengestalten des Bildhauers Michael Pickl

Kunst muss wehtun.

Nach Theodor W. Adorno

Baum und Holz. Natur und Kultur. Pflanzen sind die ersten Lebewesen, die das Wasser verlassen und die Erde begrünen, nachdem sich eine geeignete Atmosphäre und eine schützende Ozonschicht gebildet haben. Aufgrund des fehlenden Auftriebs im Wasser benötigen sie auf dem Land ein festes Gerüst, ein Skelett, das bei den großen Pflanzen, den Bäumen, Holz genannt wird. Dass der Baum in vielen Mythen als Weltmitte gilt rührt daher, dass er aufrecht steht wie der Mensch, sich Jahr für Jahr erneuert, mehr als hundert Meter hoch und über tausend Jahre alt werden kann. Hinzu kommen seine lebensnotwendigen Aufgaben – den Bestand des Grundwassers zu sichern, vor Erosion zu schützen, Wärme zu speichern, das Klima zu stabilisieren und die Atmosphäre zu reinigen.

Der Mensch braucht den Baum aus existentiellen Gründen, da er von seinen Früchten lebt und im Holz ein gut zu bearbeitendes Material findet für Hausbau und Werkzeug, für Boot und Tisch, Bleistift und Lakritz. Baum und Holz begleiten den Menschen auf seinem Weg von der Wiege bis zur Bahre.

Holz ist das Ausgangsmaterial für die künstlerische Arbeit von Michael Pickl. In seinem künstlerischen Schaffen wird die handwerkliche Arbeit von Gefühlen und Träumen, von Gedanken und Ideen geleitet. Sie auszudrücken meißelt, schnitzt und malt er das Material zu Formen und Zeichen. In seinen Holzskulpturen erhält der Baum eine neue Daseinsform. Das Eindrucksvolle seiner Kunst ist das Absehen. Ein geistiger Vorgang, bei dem er von Details, Nebensächlichem und Zufälligem absieht und einfache Formen schafft. In diesem Weglassen der den Blick verstellenden Details sowie im Gestalten eines neuen Ganzen hat er wunderbare Skulpturen geschaffen.

Im Zentrum seines Schaffens steht die Frau, der er eine wundersame Leich­tigkeit, eine radikale Einfachheit und eine geheimnisvolle Schönheit mit auf den Weg in die Welt gibt, so dass Betrachter veranlasst werden, sich in derselben Weise – frohgemut und positiv – in die Welt hinein zu bewegen. Das ist bedeutsam, weil der Mensch der Welt das Beste antut, wenn er froh, optimistisch und wohlgelaunt auf sie zugeht.

Die Frau ist in vielfältigen Haltungen und Gesten sowie in unterschiedlichen geistigen und psychischen Verfassungen dargestellt. In sich ruhend. Anmutig. Eine selbstständige Persönlichkeit. Selbstbewusst mit freiem und offenem Blick. Auch dann, wenn die Augen geschlossen sind und der Blick nach innen gerichtet ist. Aufgeweckte, mutige Frauen, die etwas vom Leben zu verstehen scheinen. Schwerelos schwebend und den physikalischen Gesetzen der Gravitation enthoben oder mit den Beinen fest auf dem Boden – auf dem übriggelassenen Holz, das als Sockel dient. In sich tragen sie eine stille Kraft, die sie an den Betrachter weitergeben und in ihm eine Sehnsucht wecken: die Sehnsucht, der inneren Kraft vertrauen zu können, und sich nicht von außen, von der Last einer hektischen und von vielerlei Nöten heimgesuchten Welt erdrücken zu lassen, sondern sie durch die Kraft der eigenen Vorstellung zu erkennen und das Leben zu meistern.

Diese Art, Frauen darzustellen, berührt. Berührt wird der Mensch immer dann, wenn er von etwas Außerordentlichem angeregt wird. Dann ist er in seinem tiefsten Innern – seinem Wesen – getroffen: das mögen eine schöne Form, eine großzügige Geste, ein verträumter Blick, ein interessanter Gegenstand oder ein ungewöhnliches Ereignis sein. Wer berührt wird, ist aufmerksam, konzentriert und hellwach. Berührt werden kann der Mensch jedoch nur von einem anderen Wesen, weshalb Berührtsein eine Resonanz zwischen zwei Wesen ist. Wenn jemand, der eine Holzskulptur betrachtet, berührt wird, bedeutet das, dass die Darstellung für ihn etwas Wesentliches zum Ausdruck bringt: etwas Bedeutsames und Typisches, in dem sich auch der Betrachter erkennen kann. Diese Resonanz von zwei Wesen gehört zum Atem der Schönheit.

Die dargestellten Frauen bedeuten Verführung, Attraktion und Schönheit. Schönheit ist das, was den Menschen anzieht. Was ihn lockt, verführt, neugierig macht. Attraktion als Prinzip der Fernwirkung gibt es zwischen Körpern wie Erde und Mond, zwischen Menschen wie Liebenden sowie zwischen Menschen und Körpern wie Kunstwerk und Betrachter. Ist das Kunstwerk attraktiv, ist es auch schön. Die Absicht besteht aber nicht darin, das Schöne zu schaffen, sondern für eine Idee eine geeignete Gestalt zu erfinden. Gelingt der Versuch, stellt sich die schöne Form ein.

Maler erzeugen auf einer Ebene räumliche Wirkungen durch Hell-Dunkel-Kontraste, Bildhauer können auf unterschiedlichen Wegen in ihren Skulpturen die räumliche Wirkung vermindern. Gerade in einer speziellen Ordnung von Raum und Fläche liegt auch das formale Prinzip der Schönheit der Skulpturen von Michael Pickl. Er verschiebt das Räumliche in Richtung auf eine größere Flächenwirkung. Der Raum wird nicht zur Fläche, sondern lediglich die flächige Wirkung wird erhöht: etwa durch eine matte Farbigkeit, eine extreme Längung der Formen und durch tiefe Linien, die Teilformen zu einer Einheit zusammenschließen und den Arbeiten eine graphische Wirkung geben. Die Kombination fein gearbeiteter, glatter Flächen mit groben und rissigen Partien hält eine Balance zwischen Flächigkeit und Räumlichkeit. Formal ergibt sich das Einfache, Kompakte und Schöne seiner Gestalten also daraus, dass die flächige Wirkung einer Skulptur die Möglichkeit bietet, scheinbar notwendige Einzelheiten wegzulassen und sie – von dem Blickpunkt aus, auf den hin sie gestaltet sind – auf einen Blick zu erfassen. Und dieser Blick erfasst das Schöne und eine besondere Idee von Mensch und Welt.

Alles Schöne ist Geheimnis. Wie Sterne, ein Sonnenuntergang, eine Blume, die Bahn der Planeten, eine mathematische Formel. Schön kann eine Körperhaltung sein oder ein menschliches Gesicht – der komplexeste Ausdruck, den das Weltall hervorgebracht hat. Jeder Mensch bietet sein Gesicht und seine Haltung und mit ihnen sein inneres Wesen der Welt dar. Gesicht und Haltung einfach und schön, treffend und anmutig wiederzugeben ist die besondere Gabe von Michael Pickl.

Die Andeutung eines Geheimnisses bedarf einer Ordnung. Begriffe vollkommener Ordnung wie Qualität und Güte, wie das Höchste und das Reine und wie Liebe und Anmut bedeuten immer auch das Schöne, weshalb Schönheit, Wahrheit und Güte eng miteinander verbunden sind. Die Skulpturen bestehen in geordneten Formen, die den Betrachter zur inneren Ordnung, Reflexion und Sammlung anregen.

Insofern gewähren die Skulpturen einen Blick hinter die Kulissen der Wirklichkeit. Denn das, was der Mensch wahrnimmt, ist nur ein kleiner Ausschnitt dessen, was die Welt ist. Schönheit ist Transzendenz, nicht Oberfläche. Unter der Ebene des Schönen liegt ihre Substanz – das Geheimnis der Welt, von der uns das Schöne eine Ahnung gibt und die uns begeistert und beflügelt. Was die Werke zu Erkenntnis-Skulpturen macht.

Schöne Gegenstände wirken über die Sinnesorgane anregend auf das Denken, Fühlen und Verhalten des Menschen und bereiten Freude. Eine gute Form, eine überraschende Funktion, ein gediegenes Material, ein großartiger Gedanke oder ein Kunstwerk können genügen, um den Menschen zu verwandeln. Sie steigern die Aufnahmefähigkeit der Sinne und befähigen ihn, Unterschiede wahrzunehmen und ein ästhetisches Urteil auszubilden. Das ist die große Leistung von Michael Pickl: Seine Holzskulpturen ziehen die Aufmerksamkeit auf sich, bieten ein neues Bild von der Welt und verwandeln den Betrachter. Deshalb: Kunst muss nicht wehtun. Aber die Wehmut muss vorhanden sein, denn das Weh ist ein Element der Schönheit. Daher ist die Schönheit seiner Skulpturen ein Zeichen für das Annehmen der Wirklichkeit und zugleich der Versuch, sie zu bewältigen. Das ist der Atem der Schönheit – ihre Lebendigkeit.

Hajo Eickhoff

© Hajo Eickhoff 2014

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